Ist ein gemeinsames Land in Israel für jüdische und palästinensische Menschen überhaupt möglich?
Ist ein gemeinsames Land in Israel für jüdische und palästinensische Menschen überhaupt möglich?
Avner Dinur und Rula Hardal haben dazu am letzten Donnerstag in der alten Seegrasspinnerei Stellung genommen – er, der jüdische Israeli und sie, Palästineserin mit israelischem Pass. Die zahlreichen Besucher:innen konnten eine tiefgehende Diskussion erleben, die ausgehend von persönlichen Ansichten und Vorstellungen hin zu politischen Visionen führte, die ungewöhnlich und beeindruckend waren. Der Moderator Andreas Beier, Vorstand des Vereins „Friendship Across Borders“ mit Sitz in Nürtingen, lud seine Gesprächspartner ein, ihre persönlichen Erlebnisse zum 7. Oktober zu berichten. Avner Dinur wohnt in Sderod in direkter Nähe zum Gazastreifen mit seiner Familie. Der Zaun, bzw. Mauer, die „seine“ Seite zu der der „Anderen“ abgrenzt, hat eine trügerische Sicherheit vermittelt. Obwohl so viel Beton verbaut wurde, die für eine Straße von Gaza nach Bulgarien reiche, bzw. so viel Metall, dass eine Armierungsstange von Gaza nach Australien entspräche, hat diese die schrecklichen Ereignisse am 7.10. nicht verhindert. Die sichtbare Mauer habe dazu geführt, dass man Hamas unterschätzt habe und dadurch der Keil zwischen palästinensischen politischen Kräften verstärkt worden sei.
„Es bleibt nichts mehr so, wie es vorher war.” Selbst die Kriege und Auseinandersetzungen von 1948 und 1974 ff haben nicht so viele Menschen getötet und zur Flucht getrieben, sagte die Politikwissenschaftlerin Rula Hardal. Seit dem 07. Oktober 2023 sind 2 Millionen Menschen vertrieben, 80% der Häuser unbewohnbar gemacht worden. Zu den Zerstörungen sind existentielle Ängste und extreme Unsicherheit hinzugekommen. Die Taten der Hamas stellen das palästinensische Volk vor ein moralisches Problem. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung lebt in separaten Territorien. Die fehlende Interaktion zwischen Juden und Palästinensern führt zu gegenseitigen Vorurteilen, verstärkt durch eine Presse, die kein gleichwertiges Bild der je „anderen“ Seite darstellen vermag. Die jüdische Vorherrschaft in Gewaltenverteilung, Militärausstattung und wirtschaftlicher Kraft fördert eindeutig ein Ungleichgewicht. Ohne das nationale Narrativ verstärken zu wollen, sieht Rula Hardal den starken palästinensischen Wunsch nach Selbstbestimmung, Freiheit, Würde. Daher seien sie eher zu Kompromissen bereit als die Mehrheit der Israelis in ihrer Komfortzone.
Die Bemühungen um Frieden haben bisher meist an der geographischen Trennung zwischen den Völkern angesetzt, obwohl beide – Juden wie Palästinenser – das Land als ihr angestammtes Heimatland betrachten. Da weder Trennung noch eine Einheit Frieden und Würde für alle bringen könne, setzen Rula Hardal und die Initiative „Two States, One Homeland“ auf eine Vision “getrennt und doch zusammen“. Politische Arbeit und Dialog ist das Motto von Avner Dinur, der eine politische Partei mitgegründet hat, die die Gleichwertigkeit aller Einwohner vorsieht – eine Haltung die das aktuelle Gesetz in Israel tatsächlich nicht vorsieht. Israel solle kein jüdischer Staat sein, sondern allen, „All Its Citizens“ – so der Name der Partei – gehören.
Der Verein „Friendship Across Borders“, der seit 15 Jahren trilaterale Wochenseminare für jüdische, palästinensische und deutsche Menschen anbietet, arbeitet weniger im Politischen als im Kreieren von Räumen zum vertieften uns sehr persönlichen Dialog. Es geht um das Verständnis von eigenen und anderen Identitätsgeschichten, nationalen Narrativen und Traumata. Dies gilt für alle drei Gruppen. Jede Person bringt also auch ihr Volks-Trauma mit sich, das ihn oder sie daran hindert, Vertrauen in die „Anderen“ zu setzen. An dieser Vertrauensbildung setzen die Seminare an. Nach anfänglicher harmonischer, von Neugierde geprägten Phase, wir es oft am dritten oder vierten Tag sehr hitzig. „From harmony to honesty“: die Teilnehmenden beginnen, die wahren eigenen Überzeugungen, Verletzungen, Gefühle den Anderen zuzumuten. Erst ein wertschätzender, sicherer Rahmen ermöglicht wahre Ehrlichkeit über die Zerrissenheit zwischen „Wahrheiten“ und Empathie. Immer wieder verwandelten sich heftige Diskussionen über lange Pausengespräche in tiefe Freundschaften. Die Fähigkeit ehrlich miteinander zu sein, wie aber auch die Ehrlichkeit des anderen auszuhalten ist nicht einfach und müsse erlernt werden. Sowohl Avner Dinur wie auch Rula Hardal sind dafür selbst ein gutes Beispiel: Sie haben zusammen mit Frieder Rieger erst letzten Sommer einen trilateralen Workshop im Wannseeforum geleitet.
War im Vorfeld des 7. Oktober noch eine Anteilnahme an dem Schicksal eines der Völker noch eindeutiger, so ist jetzt die internationale Gemeinschaft in einer Zwickmühle: pro Palästina bedeutet „pro Mord“, ebenso pro Israel bedeutet „pro Mord“ zu sein. Trennung verstärkt den Rassismus zwischen den Völkern. Nationalbewusstsein und Identität sind durch den nun 75 Jahre andauernden Konflikt auf beiden Seiten sehr stark. Beide wünschen sich einen souveränen Staat, der sie beschützt. Das Leben in Israel ist jedoch miteinander verwoben, umweltpolitisch, sozial und infrastrukturell. Daher scheine eine friedliche Zukunft nur möglich, wenn man außerhalb tradierter politischer Muster denken kann, so Rula Hardal. Ihr schwebe eine Art Bundesstaat nach Vorbild der EU vor.
Auf Frage aus dem Publikum bemerkte Rula Hardal, dass eine internationale Intervention sinnvoll sei, um den Transferprozess zu begleiten, der das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer in einen demokratisch geführten Staat für alle Bewohner des Landes überführt. Auch Avner Dinur sieht eine internationale Intervention sinnvoll, aber nur wenn es gelingt, durch Wiedergutmachung und Dialog das Misstrauen untereinander aufzulösen. Bliebe es bei der jetzigen Haltung, bliebe der Konflikt weiterhin bestehen und äußere sich mit Gewaltausbrüchen und Übergriffen von jeder Seite. Er wünscht sich internationale Unterstützung für Friedensarbeiter wie die „Combatants for Peace“ und andere Initiativen, sowie für Bildungsarbeit zum gegenseitigen Verständnis. Jetzt sei der richtige Moment für Wandel, so die Referent:innen.
Der Abend, der von NFANT und dem Bündnis für Asyl, Menschenwürde und Verantwortung mitverantwortet wurde, ließ die Besucher:innen in einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung. Wer eine klare Meinungsbildung erwartet hatte, musste enttäuscht werden. Im Gegenteil, demütig muss man anerkennen, dass ein Urteil oder eine einfache Lösung aus der Ferne nicht möglich ist. Nur durch die Überwindung des Nationen-Konzepts und die Wahrnehmung des Anderen als gleichwertigen Menschen könne Gewalt und Unterdrückung begegnet werden, so ein Zuschauer. Umso mehr muss man auch hierzulande auf Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und -situationen setzen.